PHILOSOPHY OF MATHEMATICS EDUCATION JOURNAL 11 (1999)

 

WO BLEIBT DAS SUBVERSIVE?

 

Thomas Jahnke

University of Potsdam

jahnke@rz.uni-potsdam.de

 

Abstract

The text raises the question why didactics seems to be such a harmless matter. Various aspects of the perception and the reputation of didactics are discussed rather more than its real meaning or importance. Is the low regard in which didactics is held also a consequence of its alleged purpose of reconciling the learner with the given facts of this world instead of enabling him to change them?

 

Wo bleibt das Subversive?

Ist die Fachdidaktik ein harmloses Metier?

Dank dem Zentrum für die Einladung, Dank auch an die Anwesenden, die erschienen sind, weil oder obwohl ich hier bereits schon einmal vorgetragen habe. Ich verstehe meinen heutigen Vortrag mehr noch als meinen letzten als Thesen zu einem anschließenden Gespräch, und damit dieses auch zustande kommt, werde ich im folgenden hier und da ein wenig übertreiben, nur daß ich Ihnen zunächst nicht sage wo. Robert Havemann soll einmal vor dem Zentralkomitee und, wenn ich nicht irre, als dessen Mitglied, nachdem wohl ein Redebeitrag von ihm einige Empörung hervorgerufen hat, gesagt haben: Meine Damen und Herren, ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen, das, was ich sage, ist eine ungeheuerliche Harmlosigkeit, verglichen mit dem, was ich denke.

In einer der Veranstaltungen, in denen sich die Fachdidaktiken und die Schulpädagogik im letzten und vorletzten Semester zu einem Dialog zusammenfanden, sprach auch ein Student über sein Studium und machte eigentlich eher beiläufig die Bemerkung: Die Didaktik erschiene ihm irgendwie so harmlos. Ich denke, die Ungeheuerlichkeit dieser Bemerkung war ihm gar nicht bewußt, sie war fast versehentlich über seine Lippen gerutscht, und ehe ich mich noch so recht empören konnte, kam mir der Gedanke, daß er mit seinem Diktum etwas getroffen hat, worüber sich nachzudenken lohnt.

Es geht dabei natürlich nicht darum, daß er recht haben könnte, sondern um die Frage: Wie kommt die Didaktik zu dem Odium der Harmlosigkeit? Ich will hier also nicht Bestimmungen für eine harmlose und eine nicht-harmlose Didaktik entwickeln, um dann die harmlose Didaktik zu brandmarken und den Kollegen in die Schuhe zu schieben und diesem Pappkameraden schließlich meine nicht-harmlose, vielleicht sogar subversive Didaktik gegenüberzustellen, nein, es geht mir zunächst tatsächlich nur um die Frage: Wie kommt die Didaktik, und ich meine damit vor allem die Fachdidaktik, zu dem Odium der Harmlosigkeit?

Ich will versuchen, die Intention dieser Frage noch einmal an einem Beispiel zu verdeutlichen: Das Bild des Lehrers in der Öffentlichkeit namentlich in der Presse ist recht negativ. Wenn ich mich damit beschäftige, dann ja nicht, weil ich glaubte, hier liege ein berechtigtes oder unberechtigtes Urteil vor, es ist ja ganz offenkundig, daß hier gar kein Urteil vorliegt, aber dennoch kann ich versuchen, die Genese dieses Bildes oder Zerrbildes zu verstehen, ist es sinnvoll zu untersuchen: Warum prägt ein Lehrer mit dem Surfbrett auf seinem PKW-Kombi dieses Bild oder ein penetranter Mathe-Pauker und nicht andere positiver „besetzte" Figuren?

Zurück zum harmlosen Odium der Didaktik:

1. Es könnte von den Personen ausgehen, die Fachdidaktik betreiben, also den Fachdidaktikerinnen und Fachdidaktikern.

2. Es könnte auf die Art und Weise zurückgehen, wie Fachdidaktik hier im Hause und anderswo betrieben wird; sozusagen auf ihre Erscheinungsform, also auf einer Verwechslung von Form und Inhalt beruhen.

3. Es könnte mit der Auffassung über die Rolle der Fachdidaktik im Studium künftiger Lehrerinnen und Lehrer in Verbindung stehen. Auffassungen von Personen innerhalb oder außerhalb der Fachdidaktik, möglicherweise auch (vermeintlich) oberhalb oder unterhalb von ihr.

4. Sein Herd könnte auch in Auffassungen vom - wenn Sie mir dieses sehr deutschen Wort gestatten - vom Wesen der Fachdidaktik zu suchen sein.

Diese vier möglichen Aspekte lassen sich nicht fein säuberlich trennen, sie gehen ineinander über, und ihre Unterscheidung ist nur rein pragmatischer Natur.

Didaktiker

Zum ersten Punkt, also zu dem Bild, das die Didaktiker abgeben, kann ich hier nicht sehr viel sagen, zumal ich hier ganz besonders befangen bin. Es gibt da schon merkwürdige Figuren, das würde ich jedem Studenten sofort konzedieren: den Erklärfritz, den mehr oder weniger heillosen Schwätzer, den strengen Missionar oder die freundliche Hebamme; ich kann nicht beurteilen, ob es nun in den Fachdidaktiken mehr solche Figuren als in anderen Wissenschaften gibt, ernster wäre schon die Frage, ob das, was hier am Fachdidaktiker als lächerlich, ätzend oder klebrig erscheint, z.B. bei einem Mathematiker oder Chemiker als schrullig-liebenswert, genial-vertrottelt oder sympathisch weltfremd gesehen und bezeichnet würde. (Einstein ist nicht lächerlich, da kann er noch so weit die Zunge herausstrecken!) Das läge dann aber nicht am Fachdidaktiker, sondern an der Wert- oder Geringschätzung seiner Wissenschaft, auf die ich weiter unten eingehen will. Es gibt da auch den freundlichen „didaktischen Onkel", der alles noch einmal erklärt und gerade auf Grund seiner nachhaltigen Freundlichkeit so harmlos wirkt, zugleich aber recht gern für Examensprüfungen gewählt wird. Na ja, und!

Für den Didaktiker selbst ist vielleicht bedrückend, daß sein Metier sich - zumindest im größeren, wenn auch nicht großen Stil - erst in den sechziger, siebziger Jahren an den Hochschulen etabliert hat, und so fehlen ihm vielleicht die bedeutenden Ahnen oder Vorbilder, die geschichtliche Tiefe und Weite der Disziplin. Das könnte wohl auch ein Grund dafür sein, daß man hier - mehr als in anderen Bereichen - auf Autodidakten trifft, bei denen eher die Schroffheit ihres eigenen Denkens - zuweilen wohl auch Hausbackenes und Selbstgestricktes - auffällt als die Sicherheit, Gelassenheit und Souveränität, die Tradition und Wissenschaftlergemeinschaft eines „alten" Faches hervorbringen (können). Ähnliches müßten dann auch für andere neue Disziplinen wie etwa die Politikwissenschaften oder die Informatik zutreffen; näheres ist mir hier nicht bekannt.

Arg mag einem bei manchem Fachdidaktiker auch die Liebe zu seinem Fach aufstoßen; vielleicht, so ist man dann geneigt zu meinen, erschöpft sich seine ganze Wissenschaft in der mühsamen Rationalisierung dieser Liebe, die sie - Glück im Unglück - auch nur schlecht kaschiert. Der Fachdidaktiker und seine Spielzeugeisenbahn. Einem Germanisten oder einer Chemikerin würde man so sicher kaum die Liebe zur Germanistik oder Chemie vorhalten, allein diese ist ja auch nicht Inhalt seiner bzw. ihrer Tätigkeit. Aber bei manchem Fachdidaktiker könnte man manchmal diesen Eindruck haben.

Auch Kleinkrämer und -bürger kann man unter ihnen antreffen, Autoren von Kirchenblättchen und anderen Verbandsorganen ohne Souveränität oder wissenschaftlichen Weitblick. Wo gäbe es die nicht?

In der Mathematik mag es noch eine spezielle Version geben: der Didaktiker als Verräter, der in unverantwortlicher Weise eine Fähre zur Insel der happy few betreibt. Eine Tradition mathematischer Lehre ist die Unverständlichkeit, die man sowohl in Kolloquien als auch in Vorlesungen antreffen kann. Wer verständlich vorträgt, mit dessen Forschung kann es nicht weit her sein; offensichtlich betreibt er Folklore. Die Vorlesungen dienen der Auslese, also bemühe man sich (nicht) und trage besser schlecht vor; wer es trotzdem versteht, der ist geeignet; wer nicht aufhört zu verstehen, wird zum Konkurrenten; man schaltet ihn schließlich zur größten Not dadurch aus, daß man ihn als Assistenten einstellt.

Aber all dies erklärte nur, daß die Didaktik ärgerlich, hinderlich und störend sein kann, rechtfertigte aber nicht die Einschätzung harmlos.

 

Zum didaktischen Betrieb

Sprache erscheint dem, der formal denkt, häufig unlogisch. Vermutlich liegt gerade darin ihre Verständlichkeit. Nach einem Artikel in der FAZ mit der Überschrift Mann erschlug grundlos seine Frau erkundigte sich ein Leser ganz folgerichtig in einem Brief, welche Gründe es wohl gebe, seine Frau zu erschlagen. In Statements und Überschriften findet man immer wieder eine Gedankenfigur, die ich bezeichnen möchte als:

pro bono contra malum

Der Finanzminister tritt etwa gegen überhöhte Beihilfen an die neuen Bundesländer ein, der Innenminister gegen eine Asylantenflut, der Justizminister für eine angemessene Bestrafung von Vergewaltigern etc. Eine rhetorische Figur: Wer wäre schon für überhöhe Beihilfen, für eine Asylantenflut oder gegen eine angemessene Bestrafung? Der Leser versteht die Botschaft. Offensichtlich hält z.B. der Innenminister die Zahl der Asylbewerber für zu hoch und bringt das auf diese Weise zum Ausdruck.

Ich habe zuweilen den Eindruck, daß von manchen manchmal in der Fachdidaktik ähnlich gearbeitet und gelehrt wird. Wenn man etwa an den Gebrauch von Termini wie dem des handlungsorientierter Unterrichtes denkt, dann ist da wohl eine Entscheidung gefallen, daß dieser nämlich etwas Anzustrebendes sei, und nun wird propagiert oder missioniert oder agitiert oder - wie Sie es auch immer nennen mögen. Wissenschaft wäre doch zunächst zu fragen, was ist handlungsorientierter Unterricht oder was will man als solchen charakterisieren, was unterscheidet ihn von anderem Unterricht, worin liegen seine Stärken und Schwächen etc., statt ihn mirnichts dirnichts zu propagieren und vielleicht sogar als Terminus in Studien- und Prüfungsordnungen zu übernehmen. Wer wäre denn gegen einen kindgemäßen Sachunterricht in der Grundschule, wer gegen eine alters- und sachgemäße Darstellung der Prozentrechnung? Man gebe also das pro bono contra malum Denken auf und betreibe, um im Bild zu bleiben, statt dessen mehr Moralphilosophie mit den Studenten. Sonst wird Didaktik zu Recht als harmlos betrachtet werden, nämlich als ein Metier des guten Willens oder gar der Gutwilligkeit.

Gleichfalls nach dem pro bono contra malum Prinzip nur systematischer verlaufen die

Wagenschein- und von-Hentig-Messen

Es wird ein fachdidaktischer Vortrag oder eine Vorlesung gehalten. Die schnöde Realität ist bekannt, ihr gilt es entgegenzutreten. Mit großer Bewegung und innerer Anteilnahme beruft man sich dabei auf Kronzeugen und Erzengel, wie Wagenschein und von Hentig. Vermutlich haben solche Veranstaltungen eine tiefe Berechtigung. Hier soll erweckt werden. Ich selbst habe an solchen schon teilgenommen, als Gläubiger, zuweilen auch als Meßdiener. Die Analogie zu religiösen Veranstaltungen erstreckt sich leider auch auf die Teilnehmer: Die, die es nötig hätten, fehlen und die, die da sind, haben es nicht nötig, schwören sich aber noch einmal auf die gemeinsamen Ziele als Glaubens- oder Fangemeinde ein. Man sollte aber die Teilnahme an Gottesdiensten nicht mit theologischer Arbeit verwechseln.

Um es überspitzt zu sagen: Theologie mündet nicht in Glauben, Fachdidaktik nicht in Unterricht.

 

Die zahlreichen Praktika an der Universität Potsdam

Nun ja, wird man einwenden, das Studium soll aber doch - nach unserem Hausheiligen und seinen Schriften - professionsorientiert sein; dazu gebe es schließlich die zahlreichen Praktika.

Nicht die Anzahl und Dauer der Praktiken, sondern vor allem die Ausrichtung (lat.: Orientierung) bestimmen ihre Bedeutung für das Lehramtsstudium. Die frühen Schulpraktika haben mich nie so recht überzeugt. Das Argument des Rollenwechsels erinnert mich mehr ans Monopoly-Spielen: Für die nächsten drei Runden übernehme ich die Bank. Schule ist den Studentinnen und Studenten hinreichend - wenn nicht im Übermaß - bekannt, sie sind Anstaltsprofis. Sie kennen den Sinnspruch „Non scholae sed vitae discimus" zur Genüge. Lehramtskandidaten haben mir gegenüber schon schalkhaft berechtigt das Gegenteil versichert, sie wollten doch Lehrer werden, also für die Schule lernen: Non vitae sed scholae. Jemand der dreizehn Jahre in der Schule verbracht hat, vermutlich noch als nicht allzu schlechter Schüler, sollte nicht sofort gewendet und wieder dort hingeschickt werden. Wann tritt er denn endlich einmal ins Freie, probiert seine Bildung tatsächlich aus: taugt sie, trägt sie, wenn er „vor die Fragen des Lebens" (Kühnel) gestellt wird? Statt dessen wird er von uns zurück in die Schule geschickt; nur nicht zuviel frische Luft! Statt dessen halten wir ihn dazu an durchzustarten. Nahezu entgegengesetzt wird in der Denkschrift der Bildungskommission NRW Zukunft der Schule - Schule der Zukunft als Voraussetzung für die Aufnahme eines Lehramtsstudiums ein halbjähriges Praktikum oder eine adäquate berufliche Tätigkeit in Wirtschaft, Verwaltung, sozialen und außerschulischen pädagogischen Einrichtungen empfohlen. Dieses soll vor allem dazu dienen, vor Studienbeginn Tätigkeitserfahrungen außerhalb der Schule zu gewinnen. In die gleiche Richtung gehen die Erfahrungen am Studienseminar für die Sekundarstufen I und II in Potsdam: Kandidaten mit „Vergangenheit" taugen mehr als Retortenbabies.

Die schulischen Praktika werden häufig handwerklich gesehen und begründet, vielleicht sogar als eine Art duales Bildungssystem: die Studentinnen und Studenten sollen schon einmal ein bißchen Lehrerluft schnuppern, hie und da und zunehmend selbst Stunden geben, eben Lehrling oder Novize sein: früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will. Ich halte solches Vertrautmachen und Vertrautwerden in der ersten Phase des Studiums nahezu für das Gegenteil eines wissenschaftlich angelegten Studiums, was übrigens nicht sagt, daß die Studentinnen und Studenten diese Praktika nicht außerordentlich schätzen und als motivierend erleben. Eine Schul- oder Unterrichtswissenschaft müßte gerade damit beginnen, der Schule und ihrem ganzen Betrieb, um nicht zu sagen Zirkus, den Schleier der Selbstverständlichkeit zu rauben. Dieses Affentheater - laut meinem Fachleiter kommt dieser Ausdruck von offenem Theater - ist nichts weniger als selbstverständlich; die Studentinnen und Studenten sollten es erst einmal bestaunen lernen, sich verwundert die Augen reiben. Ein Mittel, dies zu lernen, wäre übrigens die Verfremdungsmethode der Interpretativen Unterrichtsforschung: der mikroskopische Stil deren Transkripte entzieht dem unterrichtlichen Geschehen Selbstverständlichkeit und Natürlichkeit (Zoo(m)methode). Man kann auch anders vorgehen, indem man zum Beispiel alternative Schulformen oder Schulen in anderen Ländern besucht und untersucht oder sich mit der Geschichte von Schule beschäftigt. Dabei würde zunächst die Geschaffenheit, die Künstlichkeit der uns eigentlich so vertrauten Schule deutlich. Grundsätzlich würde ich die These aufstellen: Unterricht kann nur gut sein, wenn sich der Lehrer dieser Künstlichkeit bewußt ist und sie - zuweilen auch mit den Schülern - reflektiert. Schule ist eine gesellschaftlich geschaffene, künstliche Situation, so „natürlich" auch die Beteiligten agieren mögen. Dies kann einem übrigens schon ganz äußerlich deutlich werden, wenn man zum Beispiel eine Schule, d.h. ein Schulhaus in den Ferien betritt. Nämliches gilt auch für das schulische Curriculum als Basis von Schule. In dem gut lesbaren Bändchen Handlungsorientiert lehren und lernen nennt und erläutert Gudjons zehn Merkmale des Projektunterrichts und benennt als zehntes dessen Grenzen.

Seine Grenzen sind ebenfalls ein Merkmal des Projektunterrichts" (...) Historisch läßt sich nachweisen, daß nicht der Projektgedanke, sondern der Lehrgang das Entstehen von Schulen begründet: „Schule entsteht immer dann, wenn ein umfassender, rational durchgebildeter Lehrgehalt existiert, der nur in methodisch geordneter Weise überliefert werden kann." (Geißler 1969, 165).
Wenn das Lernen in der natürlichen Lebensumwelt nicht mehr ausreicht, um die in einer Kultur gesammelten Erfahrungen, Erkenntnisse und Fertigkeiten zu vermitteln, dann setzt die Übermittlung in Form des systematisch geordneten und methodisch geplanten Unterrichts ein. Insofern ist der Lehrgang letztlich - trotz aller „Entschulungsversuche" - das Kernstück von Schule überhaupt.
(Geißler, G.: Strukturfragen der Schule und der Lehrerbildung. Weinheim 1969)

Didaktik und Fachdidaktik sollten sich nicht darauf kaprizieren, von der Schule oder den Lehrern ständig etwas zu fordern, was diese nicht leisten können. Nimmt man die Bedingungen, unter denen letztere arbeiten, nicht zur Kenntnis oder nicht ernst, dann wird man in der Tat schnell zum harmlosen Rufer in der Wüste avancieren.

Zur Rolle der Fachdidaktik im Lehramtstudium

Hier sind wir auch schon mitten in meinem dritten Punkt, nämlich der Rolle der Fachdidaktik im Studium. Training on the job, eine Instituts- oder PH-Ausbildung, bei der zwei Instrumente zu erlernen, eine schöne Schrift wichtig, jede Stunde eine Deutschstunde und der Unterricht ganzheitlich angelegt ist, entsprechen sicher dem Bedürfnis und den Erwartungen insbesondere vieler Grundschulanwärterinnen und -anwärter besser als ein wissenschaftliches Studium. Und deshalb bin ich mir gar nicht einmal sicher, daß das wissenschaftliche Studium für diesen Personenkreis geeigneter als eine Lehrlingsausbildung ist. Wenn es weder dem Fach noch seiner Didaktik gelingt, ihre wissenschaftlichen Ansprüche, Fragestellungen und Themen im Bewußtsein der Studierenden zu begründen, dann bleibt subjektiv gerade die Wissenschaftlichkeit ein Ärgernis, um nicht zu sagen, ein Hindernis auf dem Weg zu dem angestrebten Beruf, in dem dann zwar mit zeitlicher Verzögerung, aber unmittelbar auf das eigene, schon als Schüler erworbene Lehrerbild zurückgegriffen wird, die Orientierung am eigenen Mathematik- oder Deutschlehrer.

Mischformen der Ausbildung und Bildung, etwa eine wissenschaftliche Handwerkslehre, müssen schließlich doch der einen oder anderen Seite den Vorzug geben. Wissenschaft verflacht dabei leicht zur idealen oder idealisierten Praxis. Dann wären Didaktik und Fachdidaktik zu Recht der Harmlosigkeit überführt. Sie verkämen zu einer allenfalls begrifflich aufwendigen Beschreibung von Lernvorgängen, die jeder 13-jährige, ganz zu schweigen von dreißig 13-jährigen, in Minutenschnelle desavouieren könnte. Denn die Verhältnisse, die sind nicht so, wie man bei Bert Brecht lesen kann. Harmlos, weil lächerlich, wäre das berechtigte Urteil. Der gleiche Tenor - wenn vielleicht auch nicht so heftig - kann sich auch bei der Fach-Didaktik als service subject ergeben, die mit wenigen Stunden dem Fach gegenübertritt, dessen Inhalte nun auf Schulniveau zu- oder ausrichten, sie lehrbar oder gar lernbar machen soll. Die Dignität der Wissenschaft deckt nicht ihre Schulvermittlungs- oder PR-Abteilung, da diese gar nicht wissenschaftlich gedacht oder betrachtet werden: auch so kann Didaktik harmlos werden.

Auffassungen von Fachdidaktik als wissenschaftlicher Disziplin oder Was Fachdidaktik nicht ist

Das gleiche Epitheton träfe auf einige naive Didaktikbilder zu. Stellen wir uns etwa folgendes vor: im Vordergrund ein Ställchen, in dem neben einigem Babyspielzeug ein Kleinkind zu sehen ist, das auf seinen Beinchen stehend seine Arme nach draußen reckt. Im Hintergrund vollgepfropft oder streng geordnet Bücherregale über Bücherregale mit Beschriftungen wie Physik, Metaphysik, Mathematik, Chemie, Medizin, Jura etc., soweit das Auge des Betrachters sehen kann. Als Bildunterschrift der Ausruf: Gott sei Dank - es gibt Didaktik. So weit, so lächerlich, und doch sehe ich westliche und östliche Versionen, deren Zerrbild das beschriebene sein könnte. Noch systematischer vielleicht: das Bild zweier benachbarter Einrichtungen; ein Kreißsaal neben einer Bibliothek. Hier würde ich als Didaktiker eher auf Unzu-ständigkeit plädieren, als Fischerei- und Computervokabeln wie Netz, Netz des Wissens, Vernetzung, vernetztes Denken ins Feld zu führen. Auch der Schlachtruf „Alle alles zu lehren" schreckt mich. Eine schreckliche Vorstellung: ständig bringen irgendwelche Leute anderen - zumeist wohl jüngeren - etwas bei, als gäbe es nichts anderes oder Schöneres und Wichtigeres oder Nützlicheres für diese zu tun, als stillzuhalten und zu lernen. Ist das der Triumph von Didaktik: Das Leben wird schließlich gänzlich zur Lebensvorbereitung?

In Parenthese: es könnte auch zu dem Odium der Harmlosigkeit beitragen, daß Schüler Kinder sind, Didaktik also als Sandkastenwissenschaft, die - wie andere Wissenschaften abwertend - der professionalisierten Mutterrolle zugeschrieben werden. Ich erinnere nur an das sogenannte Problem der Feminisierung der Pädagogik.

Westlich: das Spielzeugland

Sesame street: Bunt lackierte und gut motivierte Wege und - mit besonderer Inbrunst - geplante Holzwege baut der Didaktiker auf, wird dafür gelobt und doch harmlos genannt: Wie kommt's? Ich kann dies hier nur kurz skizzieren: der sorgfältigen, vielleicht zuweilen sogar übersorgfältigen Stoffanalyse folgt eine Sequenzierung des Stoffes in appetitliche Happen (teaspoon-, step by step- oder staircase-method), diese werden dann einzeln durchdacht, motiviert, mit Beispielen und Aufgabenstellungen versehen, kurz sie werden mit Aufwand und Mühe didaktisiert. Der Stoff ist erlegt und zerlegt; er hat längst seinen Geist ausgehaucht, es handelt sich nur noch um seine curriculare Simulation: es sieht zwar noch so aus wie Mathematik, ist aber keine mehr; das ist jetzt Schule. Die Fragen sind verschwunden, es werden Antworten gelehrt, auf Fragen, die nie gestellt wurden. Der Schüler kann nur raten, der Lehrer souffliert ihm dabei. Ein trauriges Resultat, aber nicht eines einer harmlosen Didaktik, sondern eines sinnlosen, weil Sinn austreibenden Didaktisierens.

Vielleicht führte auch das diffuse Gefühl den eingangs erwähnten Studenten zu seinem Ausspruch über die Didaktik, daß es in dieser nicht um das Eigentliche, die Sache selbst nämlich gehe, sondern dieser gleichsam etwas angeklebt werde, daß Didaktik weder ihm noch seinen künftigen Schülern die Sache näherbringt, sondern sich eher als eine eigentümliche Ebene - voller zusätzlicher Wörter, Begriffe und nicht so recht nachvollziehbarer Ansprüche - dazwischen schiebt. Als ein oberflächliches Indiz dafür ließe sich die Frage eines Studenten werten, der in der ersten Sitzung eines Seminars zur Didaktik der Algebra wie die anderen Teilnehmer zunächst einige Aufgaben zur Gleichungslehre selbst bearbeiten sollte: „Soll ich die Aufgaben so lösen, wie ich das normal tue, oder so, wie ich es als Lehrer für die Schüler tun müßte?"

In diesem Zusammenhang auch noch eine Bemerkung zu dem Begriff der didaktischen Reduktion, den ich - zumindest aus meinem Gebiet heraus - nicht so recht verstehen kann: In der Mathematikdidaktik ist es nicht das Hauptanliegen, das Interessante einfach zu machen, sondern das Einfache interessant zu machen. Das Einfache (freilich auch als Abstraktes) ist der Schlüssel zum Verstehen und nicht die Simplifizierung komplexer Sachverhalte. Aber vielleicht gilt dies nur auf meinem Gebiet und auf anderen stehen didaktische Reduktionen im Mittelpunkt.

Östlich: das Lernland

Ulbrichts Diktum, es gelte den Westen zu überholen statt ihn einzuholen, kennzeichnete die Konkurrenzsituation. Wieder notwendig verkürzt: der wissenschaftliche Sozialismus wollte eine Durchformung der Gesellschaft, eine Ausrichtung auf sozialistische Zielvorstellungen erreichen. Aus meiner Sicht führte dieses Denken im Bildungsbereich (und nicht nur dort) zu einem Optimierungsdenken: es galt den Wissenserwerb, die Fähigkeitsentwicklung etc. zu optimieren. Hinzu tritt die - für mich zunächst nicht verständliche und nicht nachvollziehbare - Vorstellung, daß diese Aufgaben eine Lösung, eine eindeutige Lösung haben, die durch gute und sorgfältige Planung erreichbar ist. Vielleicht sind die Aussagen des dialektischen Materialismus über die homogen strukturelle Einheit der Welt die philosophischen Grundlagen dieser Prämisse. Diese Eindeutigkeit der Lösung scheint mir charakteristischer und Lehrende wie Lernende in ihrem Denken prägender als deren jeweiliger Inhalt und deren jeweilige Gestalt. Nämliches gilt für die offensichtlich unterstellte Deduzierbarkeit dieser Lösungen aus systemischen Grundlagen und Vorgaben; eine Ableitbarkeit aus einer Hierarchie von Zielvorstellungen und Begriffen, die an die Nikomachische Ethik erinnert. Als ich hier in Potsdam zu arbeiten begann, war eine meiner Fragen: Ist die Mathematikdidaktik in der ehemaligen Bundesrepublik in ihrem Kern so affirmativ, wie mir die Mathematikmethodik in der DDR stets erschien? Inzwischen ist mir klar geworden, daß zumindest für die DDR von Affirmation nicht die Rede sein kann: die sorgfältige Planung, zuweilen auch Planungswut, in allen Belangen des Bildungs-, Schul- und Hochschulwesens der DDR war nicht nolens volens, mehr oder minder System bejahend, sondern dessen vorsätzlicher Bestandteil und Träger. Es stellt sich also für die DDR geradezu die gegenteilige Frage: Ist es überhaupt möglich, Methodik oder Didaktik so zu gestalten, daß sie den Zielvorstellungen eines (und speziell dieses) gesellschaftlichen Systems Vorschub leisten und sie befördern? Diese Frage wurde hier offensichtlich bejaht; die Könnens- und Wissensentwicklung wurde optimiert; die Schülerinnen und Schüler sollten optimal aneignen. Wissenspeicher wurden in der DDR Jahrgangsbände zum Mathematikunterricht genannt. Ich kann mich von dem Gefühl nicht ganz frei machen, daß das WiKö (das Wissen und Können) und das Aneignen Begriffe sind, die Resultate einer Verdinglichung sind, die wohl ihre deskriptive Folgerichtigkeit haben mag, zugleich aber systematisch und notwendig daneben schlägt. Häufig haben Lerntheorien aus gutem Grund letztlich einen biologischen Hintergrund. Ich würde einmal - freilich nur zu Testzwecken - die Quantenmechanik mit ihrem Teilchen-Welle-Dualismus als Hintergrund vorschlagen: da hätte man auf der einen Seite das Transportproblem, wie kommen diese Lerngegenstände, also jetzt Lernteilchen, in den Kopf des Lernenden, und wenn es zu dinglich würde könnte, könnte man schnell auf die Welleninterpretation dieser undinglichen Bewegung erklärend zurückgreifen.

Didaktik als Darstellungskunst

Es gab oder gibt ein Jetzt-helf-ich-mir-selbst- oder Die-Axt-im-Haus-Buch, das gut geschrieben und illustriert erläuterte, wie man seinen Klokasten repariert und ähnlich lebenswichtige Dinge verrichtet. Der Autor war offensichtlich ein Fachmann in diesen Fragen. Wenig später erschien von ihm ebenso gut geschrieben und illustriert ein Kochbuch, später ein Sachbuch zu einem ganz anderen Thema. Das hat mich verwundert: der Autor konnte gar nicht in all diesen Dinge bewandert oder gar Fachmann sein: Handelte es sich also um einen Didaktiker, der ggf. Sachverhalte und Vorgänge besser erklärt, als es der Fachmann selbst kann? Auch wenn man diese Fähigkeiten, gerade angesichts so mancher Gebrauchsanleitung, bewundern kann, ich würde das Darstellungskunst, aber nicht Didaktik nennen. Der Didaktiker, der seinen Stoff verloren hat, bei dem an die Stelle der Sache und ihrer Klärung die Kunst des Zeigens getreten ist, der mag zwar Sachverhalte angemessen darstellen, aber mit seinem Stoff hat er auch seine Schüler verloren: hier wird nicht gelernt, sondern gezeigt und erklärt. Die Abenteuer des Denkens sind längst verschwunden zugunsten einer wohl durchdachten Filetierung des Stoffes, die Sache selbst verblaßt nahezu notwendig unter ihrer aufwendigen Verpackung, Medien- und Computereinsatz tun ein übriges, vom Kern der Sache abzulenken. Vermittlungskunst statt Didaktik: was breitgetreten wird, nimmt an Umfang zu und an Höhe (Niveau) entsprechend ab.

Harmlos weil wirkungslos

Der Nobelpreisträger Richard P. Feynman ist zumindest unter Naturwissenschaftlern und insbesondere Physikern ein berühmter und geachteter Mann. Man preist seine Veranstaltungen als atemberaubend, man liebt seinen Stil, wenn nicht sogar Lebensstil, der - ganz Naturwissenschaftler - vor nichts haltmacht: weder vor Autoritäten noch vor Königen, Frauen oder Wunderheilern. Dies können Sie seinem Buch: „Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman" - Abenteuer eines neugierigen Physikers nachlesen. Auf Seite 448 beginnt er dort ein Kapitel mit folgendem Absatz:

Im Mittelalter gab es alle möglichen verqueren Ideen, zum Beispiel die, daß ein Stück vom Horn des Rhinozeros die Potenz steigere. Dann wurde eine Methode zur Aussonderung von Ideen entdeckt - die darin bestand, eine Idee auszuprobieren, um zu sehen, ob die funktionierte, und sie, wenn das nicht der Fall war, zu eliminieren. Diese Methode wurde natürlich zur Wissenschaft ausgebaut. Und die hat sich so gut entwickelt, daß wir jetzt im wissenschaftlichen Zeitalter leben. Dieses Zeitalter ist in der Tat so von der Wissenschaft geprägt, daß es uns schwerfällt zu verstehen, daß es je Wunderheiler geben konnte, wo doch nichts - oder nur sehr wenig - von dem, was sie vorschlagen, je wirklich funktionierte.

Er kommt dann auf Ufos, Astrologie, Halluzinationen und Uri Geller zu sprechen und führt dann weiter aus:

Doch dann fing ich an zu überlegen: Was gibt es denn sonst noch, woran wir glauben? (Und dabei dachte ich an die Wunderheiler und wie leicht es gewesen wäre, sie zu überführen, wenn man darauf geachtet hätte, daß nichts wirklich funktionierte.) So kam ich auf Dinge, an die noch mehr Leute glauben, zum Beispiel, daß wir ein Wissen davon haben, wie wir erziehen sollen. Es gibt ganze Schulen in bezug auf Lesemethoden, Rechenmethoden und so weiter, aber wenn man achtgibt, sieht man, daß die Leistungen im Lesen weiter zurückzugehen - oder kaum steigen -, und das, obwohl wir beständig eben diese Leute einsetzen, um die Methoden zu verbessern. Das ist auch so ein Wundermittel, das nicht wirkt. Man müßte das untersuchen: Woher wissen sie eigentlich, ob ihre Methode wirkt? Ein anderes Beispiel ist die Behandlung von Verbrechern. Offenbar ist es uns nicht gelungen - wir besitzen zwar viele Theorien, haben aber keinen Fortschritt gemacht -, durch die Methode, mit der wir Kriminelle gewöhnlich behandeln, die Verbrechensrate zu senken.
Trotzdem heißt es, diese Dinge seien wissenschaftlich. Sie werden studiert. Und ich glaube, gewöhnliche Leute, die vernünftige Ideen haben, werden von dieser Pseudowissenschaft eingeschüchtert. Die Lehrerin, die eine gute Idee hat, wie sie ihren Schülern das Lesen beibringen kann, wird vom Schulsystem gezwungen, es anders zu machen - oder läßt sich vom Schulsystem sogar weismachen, daß die Methode nichts taugen könne. Oder eine Mutter bestraft ein paar Lümmel und fühlt sich für den Rest ihres Lebens schuldig, weil sie im Sinne der Experten nicht „das Richtige" getan hat. Wir sollten uns also Theorien, die nicht funktionieren, und Wissenschaften, die keine sind, sehr genau anschauen. Ich glaube die pädagogischen und psychologischen Untersuchungen, die ich erwähnt habe, sind Beispiele für das, was ich als Cargo-Kult-Wissenschaft bezeichnen möchte. In der Südsee gibt es bei bestimmten Völkern einen Cargo-Kult. Während des Krieges sahen sie, wie Flugzeuge mit vielen brauchbaren Gütern landeten, und nun möchten sie, daß das wieder geschieht. So sind sie übereingekommen, Landebahnen anzulegen, seitlich der Landebahnen Leuchtfeuer anzuzünden, eine Hütte aus Holz zu bauen, in der jemand mit einem hölzernen Apparat sitzt, der wie ein Kopfhörer aussieht und in dem Bambusstöcken als Antennen stecken - das ist der Fluglotse -, und die warten darauf, daß die Flugzeuge landen. Sie machen das jede Nacht. Die Form ist perfekt. Es sieht genauso aus, wie es früher aussah. Aber es funktioniert nicht. Es landen keine Flugzeuge. All das nenne ich Cargo-Kult-Wissenschaft, weil es anscheinend allen Respekten und Formen der wissenschaftlichen Forschung folgt, aber etwas Wesentliches verfehlt, denn die Flugzeuge landen ja nicht.

Sind Pädagogik, Didaktik und Fachdidaktik ein Kult mit hölzernen Kopfhörern? Ein aufwendiges, schön erdachtes oder beschriebenes, suggestives Bild, nur glücklicherweise, will man hastig hinzufügen, falsch. Der Schuß geht daneben und trifft doch: hoffentlich diesen oder jenen Kollegen, könnte man sich hämisch wünschen. Was bei Feynman zunächst wie eine gelungene Beweisführung aussehen mag, ist bei näherer Betrachtung doch nur ein blendender Vergleich: Ein offensichtlicher Pseudokult wird Wissenschaft genannt, um diese - aus meiner Sicht sogar recht platt - zu desavouieren, so daß schließlich nur Naturwissenschaft als solche - mit einem eher beschränkten Begründungshorizont - bestehen kann. Dieser Schuß geht daneben. Ins Herz trifft insbesondere der Pädagogik aber offensichtlich die Frage nach ihrer Nützlichkeit. Die Pädagogik läßt sich von dieser Frage fesseln und knebeln, sie scheint ihr ein ständiges Damoklesschwert.

Feynmann wüßte übrigens auch hier Rat:

Ich war beispielsweise ein wenig überrascht, als ich mich mit einem Freund unterhielt, der eine Rundfunksendung vorbereitete. Er arbeitet über Kosmologie und Astronomie und fragte sich, wie er die Anwendungen seiner Arbeit erklären sollte. „Nun", sagte ich, „es gibt keine." Er sagte: „Ja das stimmt, aber wenn ich das sage, bekommen wir dafür keine Forschungsmittel mehr." Ich finde das irgendwie unredlich. Wenn man sich als Wissenschaftler darstellt, sollte man den Laien erklären, was man tut - und wenn diese einen unter diesen Umständen nicht mehr unterstützen wollen, dann ist das eben ihre Entscheidung.

Gerade aus meinem Fach heraus fällt mir auf, wie stark die Pädagogik von der Frage der Nützlichkeit besetzt ist. Die Mathematik scheint mir dagegen sicher wie die Existenz der Erde und des Mondes; aber nicht oder zumindest nicht vorrangig, weil sie nützlich wäre, sondern einfach auf Grund der Dignität ihres Forschungsgegenstandes und ihrer Erkenntnisse. Emphatisch zitiert 1930 einer der größten - deutschen - Mathematiker, nämlich David Hilbert, in seiner programmatischen Rede Naturerkennen und Logik beipflichtend den 1804 in Potsdam geborenen Mathematiker Carl Gustav Jakob Jacobi: Die Ehre des menschlichen Geistes ist der einzige Zweck aller Wissenschaft. Warum sind die Pädagogen dagegen so kleingläubig und stellen so häufig ihre eigene Wissenschaft zur Disposition? Wer fragte denn nach der - von mir unbestrittenen - Nützlichkeit der Altphilologen oder Archäologen?

Eine Hypothese wäre: je mehr die Wissenschaft sich dem Menschen nähern, desto mehr löst sie sich auf. Aber ich weiß nicht, ob sie richtig ist, und selbst dann wäre sie noch kein Grund, die Nützlichkeit zum Knebel und Büttel oder Wertmaßstab pädagogischen Denkens zu erheben.

Wo bleibt das Subversive

Ich werde mich hüten, gerade nach meinen obigen Ausführungen hier nun einer Für das Subversive gegen das Affirmative - Didaktik das Wort zu reden oder auch nur meine Stimme zu leihen.

Schlechte Zeiten für Subversion? Schleichend in den achtziger Jahren, rapide in den neunziger Jahren haben die Hochschulen einen Autoritätsverlust erlitten, den sie selbst fleißig befördert haben. Autorität, Einfluß, Macht und schließlich Geld erwirbt man heute durch Drittmittel: nicht seine Stellung oder seine Schriften machen den Professor heute bedeutend, sondern die Höhe der Drittmittel, die er eingeworben hat. Nicht sein Denken macht ihn bekannt, sondern die Tatsache, daß es ihm gelang, Sponsoren, die im Zweifel nichts von der Sache verstehen, zu überzeugen, ihm ihr Geld für diesen oder jenen Zweck anzuvertrauen. Die Hochschule ist erfreut so bedeutende Mitglieder in ihrem Lehrkörper zu wissen. (Nicht einmal bei einem Hochschulfest oder dem Empfang nach einer Ehrenpromotion geht es ohne Nennung der Sponsoren ab, als könnten wir nicht einmal unser Bier mehr selbst bezahlen.) Kritische Potenzen der Universität erlahmen in dieser science-park-Landschaft. Hier geht es nicht mehr um unbewußte oder verschwiegene Affirmation sondern um bewußte und offene Geld-, Auftrags- und Parteinahme von und für die Industrie- und Handelskammer und der in ihr zusammengefaßten Unternehmen. Es scheint seltsam anachronistisch, hier noch nach Subversion zu fragen. Es liegt deshalb nahe, einen „älteren" Text von 1971 heranzuziehen, ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Studenten, das unter dem Titel Jenseits von Gut und Böse in dem Buch Von der Subversion des Wissens abgedruckt wurde.

Subversion des Wissens

Alain: Es darf nicht vergessen werden, was sich auf der Straße abspielt: die Durchsuchungen des Quartier Latin; die Bullen, die mit ihren Wagen die Mopeds der Schüler blockieren, um zu sehen, ob sie nicht Drogen haben. Diese ununterbrochene Präsenz: ich kann mich nicht auf die Erde setzen, ohne daß mich ein Uniformierter zum Aufstehen zwingt. Doch ist die Repression im Unterricht, die einseitig ausgerichtete Information, wahrscheinlich noch schlimmer... Serge: Man muß unterscheiden: zunächst die Aktivitäten der Eltern, die einem die Höhere Schule als Etappe zu einem bestimmten Berufsziel hin aufzwingen und die alle Hindernisse, die sich diesem Ziel entgegensetzen, zu beseitigen suchen; dann der Staatsapparat, der jede freie und kollektive Aktion untersagt, auch wenn sie harmlos ist; schließlich das Schulwesen selbst - aber da sind die Dinge noch komplizierter. Jean-Pierre: In vielen Fällen wird der Unterricht des Lehrers nicht unmittelbar als repressiv erlebt, auch wenn er es eigentlich ist. Michel Foucault: Jawohl, die Wissenvermittlung stellt sich immer als etwas Positives dar. In Wirklichkeit fungiert sie immer als Unterdrückung und Ausschließung - die Mai-Bewegung in Frankreich hat einige Aspekte davon bewußt gemacht: Ausschließung derjenigen, die kein Recht auf Wissen haben oder die nur auf einen bestimmten Typ des Wissens Recht haben; Aufzwingung einer bestimmten Norm, eines bestimmten Modells des Wissens, das sich hinter dem Gesicht einer interesselosen, allgemeinen, objektiven Erkenntnis verbirgt; Existenz „reservierter Wissenszirkulationen", die sich innerhalb eines Verwaltungs- und Regierungsapparats, eines Produktionsapparats, bilden und zu denen es keinen Zugang von außen gibt."

Die Wissensvermittlung stellt sich immer als etwas Positives dar. Didaktik als Versöhnung mit der Welt, der gesellschaftlichen Ordnung? Liegt hier ihr eigentlich affirmativer Charakter? In wenigen Sätzen ließe sich diese Frage nur falsch, plakativ oder ungenügend beantworten. Statt dessen wäre zunächst einmal weiter zu fragen: Kann Didaktik affirmativ, das Wissen selbst aber subversiv sein? Ist „wahre" Wissenschaft nicht von vornherein subversiv oder kann sie ebenso gut oder beliebig auch Herrschafts- und Verfügungswissen anhäufen? Macht Erkenntnis die Sache sich gefügig? Oder fügt sie sich ihr?

Wenn Wissen subversiv sein kann, was sagen dann die Gesellschaft und der Staat dazu? Wie reagieren sie darauf als Inhaber und Betreiber nahezu aller Bildungseinrichtungen? Hier auf dem Boden der ehemaligen DDR vermisse ich eine Behandlung dieser Fragen. Von ideologischer Gängelung befreit, müßte gerade hier doch ein Knall zu hören sein. Wo bleiben das Beben und seine Wellen, das die Staatlichkeit von Wissenschaft und Bildung befragt und in Zweifel zieht? Ich sehe hier nur hauptsächlich Nachlernen und Rezipieren vorher unzugänglicher Quellen: wo bleibt das Subversive?

Subversion der Wissenschaft

Subversion der Wissenschaft könnte heißen, daß die Wissenschaft Gesellschaft und Staat untermininiert, aber auch daß die Wissenschaft selbst untergraben wird. Wie schnell deren begriffliche Gerüste, Theorien, Selbstverständnis und gesellschaftliches Rollenverständnis ins Rutschen kommen kann, läßt sich erleben, wenn man z.B. - und vielleicht nur ein Stück weit - Ausführungen von Paul Feyerabend folgt (und man wäre fast versucht, dies auch einmal Feynman zu empfehlen). In Wissenschaft als Kunst geht er auf die Fragen: (a) Was ist Wissenschaft? und (b): Wie wichtig sind die Wissenschaften? ein. Zur ersten bemerkt er:

Frage (a) nimmt an, daß alle wissenschaftlichen Disziplinen in allen Stadien ihrer Geschichte gewisse Züge gemeinsam haben und daß man diese Züge aufzeigen, beschreiben und verstehen kann, ohne die komplexe Praxis zu verstehen, der sie angehören. Die Annahme setzt voraus, daß Wissenschaftler, die ja die Tendenz haben, alles zu kritisieren und zu verändern, doch gewisse Dinge unberührt lassen - und das sind eben die Dinge, die ihre Verfahren „wissenschaftlich" machen. Die Annahme war plausibel in Zeiten, in denen große Teile der Wissenschaften eine einheitliche Basis postulierten und glaubten, sie in den Prinzipien gewisser hervorragender Wissenschaften gefunden zu haben, wie etwa in den Prinzipien der Mechanik. Wissenschaftlich sein hieß dann eben den Prinzipien der Mechanik so genau wie nur möglich folgen. Heute ist die Annahme nicht mehr plausibel. Die Entwicklungen, die zur Relativitätstheorie und zur Quantentheorie geführt haben, haben nicht nur grundlegende Prinzipien wissenschaftlicher Methodik verletzt, sie haben auch zu Theorien geführt, die scheinbar den Grundsätzen des vernünftigen Denkens selbst widersprechen (Grundsätzen wie etwa: Trennung von Subjekt und Objekt; Kausalität; Gesetze der formalen Logik; mechanische Modelle; und so weiter). Niemand kann nach so drastischen Veränderung voraussehen, was die Zukunft bringen wird. Es wäre daher sehr unklug, wollte man noch einmal versuchen, die Wissenschaften durch Aufstellung stabiler Randbedingungen der Forschung zu zähmen. Der Versuch ist nicht aussichtslos, aber wenn er gelingt, dann gelingt er als ein politisches Manöver und nicht, weil er dem Verfahren der Wissenschaften selbst entspricht. Die einzige vernünftige Antwort auf die Frage (a) ist also eine historische Antwort: das sind die Theorien, die wir heute haben, das sind unsere Forschungsmethoden, das sind die Gründe, warum wir sowohl die Theorien als auch die Methoden für gut halten - aber neue Theorien und neue Methoden können uns jeden Augenblick überraschen.

Unnötig zu sagen, daß Feyerabends Anmerkungen zur Frage (b) für den naiven und insbesondere den naturwissenschaftlich geprägten Denker noch viel verwirrender und beunruhigender ausfallen. Es wäre wenig sinnvoll, sie hier zu paraphrasieren. Eine Didaktik, die ihr Fach auch als Ganzes sieht, kommt aber gar nicht umhin, sich solchen Fragen zu stellen.

Subversive Erziehung

Der Anspruch des eigenen Denken: führt es nur bis zu den Begriffen, die zumeist schon von anderen entwickelt sind, oder führt es auch wieder hinaus? Wie ernst nimmt es sich selbst? Wo bleibt die Skepsis, der Vorbehalt oder auch nur der natürliche Argwohn gegen das, was einem da vorgesetzt wird? Als „besonders unwissenschaftliche" Haltung erschiene es mir, wenn die Lernenden all das, was sie vom Katheder hören, für bare Münze nähmen, mit der sie dann später ihr Examen - die Lehrenden beim Wort nehmend - bezahlen.

Mein harmloser Didaktiker-Rat an die Studenten wäre: statt den Dozenten aus den Händen zu fressen, lesen Sie einmal in nächtlichen Debattierzirkeln Feynman und Foucault und Feyerabend; und für die Kollegen: Was man den Studenten empfiehlt, sollte man - zuweilen wenigstens - auch selbst tun.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

In dem lebhaften Gespräch, das dem Vortrag folgte, standen weniger dessen Aussagen oder Thesen zur Debatte als das Nicht-Gesagte: nicht das Odium der Fachdidaktik wurde diskutiert sondern diese selbst, ihre Bedeutung, Nützlichkeit etc, so als müsse man sich nach „so einem" Vortrag doch dieser Dinge schleunigst vergewissern. Fehlt der missionarische Brustton der inneren Überzeugung, scheint das didaktische Selbstbewußtsein bei manchem schnell ins Wanken zu geraten.

© The Author 1999